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Spannungen und Konflikte zwischen Arbeit, Wohnen, Freizeit: Ursachen und Lösungen

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

längst ist es gute Tradition, dass wir in unseren UN-Konventionell-Newslettern zentrale Fragestellungen aus dem Bereich betriebsintegrierte Teilhabemöglichkeiten aufgreifen. Der erste Newsletter 2019 thematisiert jene Spannungen und Konflikte, die nicht selten zwischen den Assistenten und Betreuern von Menschen mit Behinderung in deren Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich entstehen. Ursache sind mangelhafte Informationen und Missverständnisse, aber auch unterschiedliche Werthaltungen und Auffassungen darüber, was für eine Person wichtig ist bzw. was ihr nächster Entwicklungsschritt sein soll. Widersprüchliche Ziele sind für die Betreffenden verwirrend und können ihre Entwicklung behindern. Wir haben zwei Werkstattvertreter befragt, wo sich in ihren Arbeitsbereichen solche Konflikte ergeben und wie sie ihnen vorbeugen bzw. wie sie sie lösen.

Michael Schumann leitet den Fachdienst Betriebliche Integration der Lebenshilfe Braunschweig. Seine Arbeit besteht hauptsächlich aus Information und Kommunikation:

"Ein klassischer Zielkonflikt in der WfbM liegt darin, dass jemand den Wunsch äußert, außerhalb der Werkstatt zu arbeiten und dass der Gruppenleiter das mit dem Argument zu verhindern sucht, der Betreffende wäre noch nicht so weit. Das ist die feinere Umschreibung dafür, dass er ihn nicht abgeben will, denn den Satz ‚Den kann ich nicht abgeben, den brauch ich noch‘ darf es bei uns nicht mehr geben.

Wir gehen verschiedene Wege, um Werkstattbeschäftigten Veränderungswünsche zu ermöglichen. Unsere Teamkollegen bieten nach Möglichkeit einmal im Monat in jeder Werkstatt eine Sprechstunde an. Die Beschäftigten können dort direkt mit uns Kontakt aufnehmen und ihre Wünsche vorbringen. Gleichzeitig zeigen wir damit Präsenz und kommen mit den Gruppenleitern und Sozialdiensten ins Gespräch. Jedes Teammitglied fungiert als fester Ansprechpartner für eine WfbM. Auf Vollversammlungen präsentieren wir beispielsweise freie Stellen, zeigen Bilder vom Betrieb und informieren über Tätigkeiten, die dort erwartet werden. Mitarbeiter auf Außenarbeitsplätzen stellen ihre Arbeit vor.

Um die Kollegen auf die sich abzeichnenden Herausforderungen an die Werkstätten einzustimmen, wird in unserer Werkstatt das Positionspapier der BAG WfbM ‚Werkstatt im Wandel‘ breit diskutiert. Tenor: Wenn die Werkstatt auf Dauer bestehen will, muss sie sich öffnen. In diesem Sinne arbeiten wir auch an unserem Leitbild.

Der wichtigste Übergangsbereich aus der Werkstatt in den Arbeitsmarkt ist der Berufsbildungsbereich. Unser Team ist seit Kurzem im neuen Berufsbildungszentrum untergebracht. Dadurch sind die Wege kurz, wir tauschen uns regelmäßig mit den Kollegen aus und sind auch bei den BBB-Teilnehmern präsent.

Eine zweite Schnittstelle, bei der es leicht zu Zielkonflikten kommt, ist die zwischen unserem Fachdienst und dem Wohnbereich. Dort sind vor allem die ambulanten Betreuungsdienste unsere Ansprechpartner. Auch mit ihnen halten wir regelmäßigen und engen Kontakt, um Missverständnisse und Informationsdefizite erst gar nicht aufkommen zu lassen. In den grundsätzlichen Zielen sind wir uns mit den Kollegen meist einig. Zu Unstimmigkeiten kommt es aber leicht durch Unkenntnis oder falsche Erwartungen. Wer nicht in der Werkstatt arbeitet, dem fehlt oft das Verständnis für unsere Abläufe, unsere Finanzierungswege und unsere wirtschaftlichen Zwänge. Deshalb informieren wir so gut es geht über das "System Werkstatt". Bei den Erwartungen erleben wir oft, dass der Zeitbedarf falsch eingeschätzt wird, dass die Einschätzungen der Leistungsfähigkeit unrealistisch sind oder dass betriebliche Probleme unterschätzt werden. Auch dagegen hilft nur eine enge Abstimmung in der direkten Kommunikation. Der Fachdienst bündelt alle relevanten Informationen und informiert möglichst schon im Vorwege über anstehende Veränderungen. Mit den Eltern sind wir ebenfalls frühzeitig in engem Kontakt und bereiten sie darauf vor, dass eine Verselbständigung im Arbeitsbereich oft auch zu einer Loslösung aus dem Elternhaus führt.

Wichtig ist außerdem das Informationsmanagement im Team. Die Kollegen müssen rechtzeitig über alle für sie relevanten Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Werkstatt informiert sein, um darauf reagieren zu können.

Auf den unterschiedlichen Ebenen ist also eine gute und vorausschauende Kommunikation der Schlüssel für die Vermeidung von Konflikten."


Unsere zweite Gesprächspartnerin war Berni Jansen, Reha-Leiterin der Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung GmbH (BWB). In ihrer Arbeit sind unterschiedliche Interessen und Zielkonflikte ebenfalls ein wichtiges Thema:

"Zielkonflikte gibt es in der Werkstatt auf unterschiedlichen Ebenen, etwa zwischen Produktion und Rehabilitation, zwischen den Gruppenleitern und den Fachkräften für Außenarbeit oder zwischen Werkstatt und Wohnbereich. Solche Konflikte sind oft der Ausdruck des Spagats, in dem wir als Werkstätten stecken. In den Berliner Werkstätten bemühen wir uns intensiv darum, solche Unstimmigkeiten von vornherein zu vermeiden bzw. Lösungen zu finden.

Einige typische Beispiele:

  •   Zwischen den Produktionsverantwortlichen und den Sozialpädagogen gibt es
      Streit um arbeitsbegleitende Angebote, die mit der Erledigung eines
      dringenden Auftrags kollidieren.
  •   Ein Gruppenleiter will einen Mitarbeiter nicht auf einen Außenarbeitsplatz gehen
      lassen, weil er einer seiner Leistungsträger ist.
  •   In einer Wohngruppe liegt ein Musikangebot am frühen Nachmittag. Sie erwartet,
      dass der Beschäftigte dafür frei bekommt.
  •   Ein Therapeut hat nur noch einen freien Termin während der Werkstattzeit.
      Er erwartet ebenfalls, dass dies Vorrang vor der Arbeit hat.

Immer geht es um unterschiedliche Interessen und Werthaltungen und oft fehlt das Verständnis für den anderen, für seine Situation und die Zwänge, in denen er steckt.

Wir gehen in zweierlei Weise damit um. Zum einen gehen wir den Weg über die Kommunikation, den Dialog. Mit den Produktionsleuten reden wir über die Bedeutung der Rehabilitationsangebote und mit den Rehaleuten über betriebswirtschaftliche Erfordernisse. Werkstattübergreifend versuchen wir, eine gemeinsame Haltung zu erreichen, die alle diese Erfordernisse berücksichtigt und ihnen gerecht wird. Für den Zugang zum Arbeitsmarkt gilt werkstattintern die Regel, dass der Wunsch des Beschäftigten immer ernst genommen werden muss.

Auch mit unseren Partnern außerhalb der Werkstatt, mit Eltern oder Wohneinrichtungen, suchen wir den Dialog. Gegebenenfalls machen wir ihnen klar, dass Werkstattarbeit keine Beschäftigungstherapie ist, sondern der Beruf der Mitarbeiter, den jeder so erst nehmen muss wie eine andere berufliche Tätigkeit auch.

Das zweite Mittel, das wir zur Lösung von Zielkonflikten einsetzen, sind klare Prozesse, eine verbindliche Struktur, in der die Abläufe für alle eindeutig geregelt sind. Gruppenleiter dürfen den Übergang von Beschäftigten in einen Betrieb nicht dauerhaft verhindern. Es ist geklärt, wer zu welcher Zeit eingeschaltet und tätig werden muss und in welchen Zeiträumen die Prozesse abgeschlossen werden müssen. Diese Abläufe sind schriftlich festgelegt, werden kommuniziert und sind überprüfbar. Unsere Erfahrung ist, dass Gruppenleiter solche Regelungen schätzen, weil sie wissen, woran sie sind und was sie zu tun haben.

Außerdem beteiligen wir die Gruppenleiter an den Erfolgen bei der Vermittlung. Sie sind nicht nur die Leistung des Vermittlungsdienstes, sondern auch ein Erfolg der Gruppenleiter, die die Vorarbeit geleistet haben.

Ausgangspunkt unserer Zielplanung ist der Wunsch des Beschäftigten. Allerdings fassen wir nicht alles, was jemand äußert, als Befehl auf. Die soziale Szene verabsolutiert allzu leicht das Wunsch- und Wahlrecht und versucht jeden geäußerten Wunsch sofort und buchstäblich umzusetzen. Oft ergeben sich daraus Situationen, mit denen den Betreffenden nicht geholfen ist, etwa wenn jemand eine Tätigkeit ausübt, zu der ihm die Voraussetzungen fehlen. Solche Scheinlösungen nehmen die Person letztlich nicht ernst. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass unrealistische Berufswünsche im Gespräch durchaus veränderbar sind, weil die Betreffenden letztlich eine wirklichkeitsnahe Selbsteinschätzung haben."



Jahrestagung des Vereins UN-Konventionell zum Thema Zielkonflikte

Auf der Jahrestagung 2019 des Vereins UN-Konventionell e.V. sind die Interessens- und Zielkonflikte zwischen Arbeit, Wohnen und Freizeit das Thema und Vertreter aller drei Lebensbereiche sind eingeladen, sich darüber auszutauschen. Ausgangspunkt der Tagung ist die Personenzentrierung aller Teilhabeangebote, die im neuen Bundesteilhabegesetz eine zentrale Bedeutung hat. Wohn-, Arbeits- und Freizeitangebote müssen sich daran messen lassen, wie sehr sie dem Willen der leistungsberechtigten Person Rechnung tragen. Für den Einstieg ins Berufsleben bedeutet das beispielsweise, dem jungen Menschen die eigene Entscheidung über seinen Berufsweg und dessen Ausgestaltung zu ermöglichen und sicherzustellen, dass alle Bezugspersonen diesen Wunsch akzeptieren und unterstützen. Dasselbe gilt für seine Ziele im Wohn- und Freizeitbereich, die die jeweils anderen Akteure mittragen und unterstützen müssen.

Die zentralen Fragen dieser Tagung lauten also: Wie können wir einen Menschen mit Behinderung in seiner Kunden- und Nutzerrolle stärken und ihn unabhängiger von Fremdbestimmung machen? Wie ermöglichen wir selbstbestimmte Entscheidungen und stellen sicher, dass sie von allen Beteiligen als gemeinsamer Auftrag angesehen werden?

Die zweitägige Veranstaltung bietet dazu richtungsweisende Vorträge und intensive Workshops, in denen die Teilnehmer miteinander in Austausch kommen und ihren eigenen Weg zu diesem Thema erarbeiten können.




Was will ich?
Selbstbestimmte Lebensführung in Arbeit, Wohnen und Freizeit

Jahrestagung 2019 des Vereins UN-Konventionell e.V.

Termin: 04. und 05. Juni 2019
Ort: Tagungshotel Hoffmanns Höfe, Frankfurt-Niederrad
Kosten: 340 Euro zzgl. MwSt.

Weitere Informationen & Anmeldung




Achtung: Die Offene Mitgliederversammlung des Vereins UN-Konventionell findet am 4. Juni von 11.00 bis 12:30 Uhr statt. Sie dient dem wechselseitigen Kennenlernen und dem Austausch über Praxisfragen. Eingeladen sind Mitglieder und Nicht-Mitglieder.


Im Tagungshotel Hoffmanns Höfe steht bis zum 28. April 2019 ein Zimmerkontingent (Preis pro Einzelzimmer: 72 Euro) für die Übernachtung vom 4. auf den 5. Juni 2018 zur Verfügung. Für die Zimmerreservierung setzen Sie sich bitte sich eigenständig mit dem Hotel in Verbindung: Tel.: 069 6706100, info@hoffmanns-hoefe.de


Mein Arbeitsplatz im Betrieb

Pascal Knierim: Am liebsten fahre ich mit dem Gabelstapler



Und dann noch:

EUSE-Tagung 2019




Herzliche unkonventionelle Grüße