Sandra Fischer (38) war 14 Jahre lang Gruppenleiterin in der Bamberger Lebenshilfe-Werkstatt. In einer Doppelgruppe leitete sie Montagearbeiten an, unter anderem für namhafte Automobilzulieferer. Bamberg hat mit der Abteilung integra MENSCH einen sehr erfolgreichen Dienst für betriebsintegrierte Arbeitsplätze aufgebaut. Sandra Fischer reizte es, sich auf eine Stellenausschreibung von integra MENSCH zu bewerben und seit Anfang 2018 arbeitet sie als Integrationsbegleiterin.
Karsten Brudloff (36) absolvierte seinen Zivildienst bei der Lebenshilfe Goslar und arbeitete seit 2005 als Gruppenleiter in der Werkstatt, vor allem in der Montage von Lattenrosten. Als 2012 eine Stelle für das Betriebliche Integrationsmanagement ausgeschrieben wurde, bewarb er sich, wurde aber zunächst nicht ausgewählt. Als der Stelleninhaber ein gutes Jahr später aus Goslar wegzog und die Stelle erneut besetzt wurde, hatte er Erfolg. Zu dieser Zeit betreuten zwei Arbeitsbegleiter etwa zehn Beschäftigte, heute ist das Team auf vier Fachkräfte angewachsen und betreut 60 Außenarbeitsplätze.
Ulf Mauerhoff (49) arbeitet seit 2011 bei den Elbe-Werkstätten in Hamburg. Im Bereich „Retörn“ war er als Sozialpädagoge zunächst die psychisch erkrankten Beschäftigten in der Werkstatt zuständig, nach zwei Jahren wechselte er mit einem Teil seines Stundenkontingents in die neu aufgebaute Integrationsbegleitung. Nach einigen Jahren übernahm er immer mehr die Aufgaben eines Integrationsbegleiters.
Was waren für die drei Arbeitsbegleiter die Gründe für ihren Wechsel?
Sandra Fischer: „Ich habe nach 14 Jahren Werkstatt eine neue Herausforderung gesucht. Für mich hatte Inklusion immer schon einen hohen Stellenwert, deshalb habe ich auf die Ausschreibung von integra MENSCH reagiert und die Stelle tatsächlich bekommen.“
Karsten Brudloff war ebenfalls ein wenig werkstattmüde: „Ich suchte eine neue Perspektive für mich selber, aber auch für Beschäftigte, die den Wunsch hatten, außerhalb der WfbM zu arbeiten. Die Werkstatt ist ein sehr klar strukturiertes System, wo es nicht viel Freiräume gibt. Da hat mich eine offenere und flexiblere Tätigkeit gereizt.“
Ulf Mauerhoff berichtet, er habe vor seiner Tätigkeit in der Werkstatt fünf Jahre lang als Arbeitsvermittler im Jobcenter gearbeitet. „Von daher hatte ich von Beginn an einen engen Bezug zum Thema Vermittlung. Bei Retörn gab es damals schon das Integrationsprogramm ‚Jobvision‘.Vor einem ersten Praktikum sah es eine lange Assessment- und Auswahlphase vor und nur wenige schafften tatsächlich den Absprung, weil die Hürden der Vermittlung noch sehr hoch lagen und viel auf Eigenständigkeit Wert gelegt wurde. Ich muss zugeben, ich hatte zu dieser Zeit noch wenig Erfahrung mit dem Personenkreis und musste erst lernen, wo dessen Schwierigkeiten und manchmal auch Grenzen liegen. Aber ich kam zu einer Zeit, in der sich über das Hamburger Budget für Arbeit die Türen zu einer erfolgreichen Vermittlung öffneten. Die Elbe-Werkstätten wollten ihren Anteil an Außenarbeitsplätzen deutlich erhöhen und auch bei uns im Psych-Bereich gab es einen Haltungswechsel in Bezug auf Vermittlung. Heute arbeite ich mit einer halben Stelle in einem Team von Integrationsbegleitern mit vier Kollegen. Mit der anderen halben Stelle übernehme ich Aufgaben als Reha-Koordinator.“
Während die Vermittlung von Werkstattbeschäftigten mit psychischer Behinderung für Ulf Mauerhoff ein Terrain war, das er als Pionier mit seinen Kolleginnen neu erschloss, konnte Sandra Fischer auf eine langjährige Vermittlungspraxis und ein eingespieltes Team zurückgreifen: „Wir haben Anfang des Jahres zu viert neu bei integra MENSCH begonnen. Uns standen von Beginn an Mentoren zur Seite und wir bekamen eine dreiwöchige Einarbeitungsphase in Theorie und Praxis. Auch als wir dann selbständig begleiteten, war immer jemand von den alten Hasen für uns ansprechbar.“
Was ist der Unterschied zwischen der Arbeit in der Werkstatt und auf der als Jobcoach in einem Betrieb?
Sandra Fischer: „Bei integra MENSCH bin ich viel mehr auf mich selbst gestellt. Man benötigt dazu ein hohes Maß an Selbstorganisation. Die Einsatzorte wechseln, man ist parallel in zum Teil sehr unterschiedlichen Betrieben und Einrichtungen tätig. Da muss man anpassungsfähig und flexibel sein. Auch die Arbeitszeiten sind nicht so geregelt wie in der Werkstatt. Ich bin gelernte Erzieherin und kenne mich in den Arbeitsfeldern im Gesundheits- und Sozialwesen aus. Darum ist mein Spezialgebiet bei integra MENSCH überwiegend der soziale Bereich: Ich begleite die Teilnehmer in Kindergärten und Tagesstätten, in Altenheimen und im Krankenhaus. In einer Schreinerei wäre ich sicher deplatziert. Auch meine Arbeitsinhalte haben sich geändert: In der Werkstatt war ich Anleiterin und Bezugsperson für die Beschäftigten und ich war für meine Aufträge verantwortlich. In den Betrieben ist die Begleitung der Teilnehmer nur ein Teil meiner Aufgaben, ich muss auch dem Betrieb und den Betriebskollegen zur Verfügung stehen, sie informieren und anleiten.“
Karsten Brudloff sieht es ähnlich: „In der Werkstatt ist der Gruppenleiter immer präsent und kümmert sich um alles, fast wie eine Mutter. Im Betrieb sehe ich den Mitarbeiter nicht ständig und muss gut beobachten, feinfühlig sein, um sein Befinden zu erspüren. Ich muss aber auch ein Gespür für den Betrieb entwickeln, die Abläufe, Strukturen und Machtverhältnisse durchschauen, um mit meinem Anliegen Erfolg zu haben. Und ich bin ein Bindeglied zwischen meinem Beschäftigten, den Kollegen und Vorgesetzten, der Werkstatt und den Eltern und muss alle Beteiligten im Blick haben. Am Anfang bin ich immer auch ein Verkäufer. Ich verkaufe die Idee, einen behinderten Menschen zu beschäftigen. Da kommt es sehr auf mein Auftreten, mein Geschick und meine Überzeugungskraft an. Das ist eine Herausforderung, die es in der Werkstatt so nicht gibt.“
Für den Sozialpädagogen Ulf Mauerhoff hat sich der Betreuungsschlüssel deutlich verbessert: „In der Werkstatt hatte ich es mit 60 Mitarbeitern zu tun, als Integrationsbegleiter betreuen wir pro volle Stelle 24 bzw. 16 Personen im Budget für Arbeit bzw. im Arbeitsbereich. Im Berufsbildungsbereich sind es neun.“ Für Ulf Mauerhoff bedeutet die Integrationsbegleitung nicht so sehr ein stärkeres Auf-Sich-Gestellt-Sein wie für seine Bamberger Kollegin: „Bei dem hohen Schlüssel für Sozialpädagogen ist man in der Werkstatt auch ziemlich allein.“ Auch er erlebt seinen neuen Aufgabenbereich als positive Herausforderung. „Ich muss die Arbeitgeber überzeugen, das Wagnis einzugehen, ihnen aber gleichzeitig reinen Wein über ein mögliches Scheitern einschenken. Eine psychische Erkrankung ist nie ganz überwunden, es gibt immer das Risiko des Rückfalls. Aber sie haben unsere Unterstützung, falls es zu einer Krise kommt und ich mache sie ein Stück weit auch selbst zu Experten. So gesehen ist es eine doppelte Begleitung: Die der Beschäftigten und die der Kollegen im Betrieb.“ Und auch er betont die vielfältigen Herausforderungen seiner Aufgabe: „Ich habe es vielen unterschiedlichen Betrieben zu tun. Jeder tickt ein wenig anders und man muss sehr wach und flexibel sein, um Erfolg zu haben.“
Ist für die Integrationsbegleitung Werkstatterfahrung von Vorteil?
Sandra Fischer bejaht das: „Für mich ist es eindeutig ein Vorteil. Ich kenne die Werkstattstrukturen, die Abläufe und die Probleme, kenne die Beschäftigten und die Kollegen, kann meine Beziehungen nutzen und habe einen Vertrauensvorsprung. Ich weiß auch, dass es den Weg zurück in die Werkstatt gibt. Das Verständnis füreinander macht alles einfacher.“ Ulf Mauerhoff kann das im Wesentlichen bestätigen, gibt aber auch zu bedenken: „In der Werkstatt entwickelt man leicht eine ‚Werkstattdenke‘, die hinderlich sein kann, eine bewahrende, übervorsichtige Haltung, die den Leuten zu wenig zutraut. Da kann es auch ganz hilfreich sein, mit unverbrauchtem Optimismus von außen zu kommen.“
Karsten Brudloff hat auch schon erlebt, dass die ehemaligen Kollegen ihm nicht immer nur wohlgesonnen sind, wenn er ihnen die Leistungsträger wegholt: „Das kann in der Werkstatt auch mal zu Problemen führen. Deshalb bemühen wir uns, auch Praktikums- und Erprobungsmöglichkeiten für Leistungsschwächere zu schaffen.“
Können die drei den Sprung von der Gruppenleitung in die Integrationsbegleitung jedem Kollegen empfehlen?
Sandra Fischer ist da vorsichtig: „Wer flexibel ist und sich ein hohes Maß an Selbstorganisation wünscht, wer mit viel Freiraum und Eigenverantwortung gut zurechtkommt, für den ist das das ideale Arbeitsfeld. Wer aber lieber in einem festen Team und geregelten Abläufen arbeitet, der ist in der Integrationsbegleitung nicht so gut aufgehoben.“ Karsten Brudloff ist ähnlicher Meinung: „In dieser Arbeit muss man die Herausforderung mögen und kommunikativ sein. Wenn man sich gut auf immer neue Betriebe und Partner einstellen kann, dann ist das ein wunderbarer Job, wo man viele Erfolgserlebnisse für sich verbuchen kann. Aber es ist nicht
unbedingt etwas für jeden.“
Ulf Mauerhoff sieht das weniger kritisch: „Integrationsbegleiter zu sein ist eine Aufgabe, die einen fordert, vielseitig, abwechslungsreich, voller Erfolgserlebnisse, aber auch immer mit der Gefahr des Scheiterns. Einen Arbeitsplatz zu akquirieren und dafür zu sorgen, dass ein Beschäftigter im Betrieb Fuß fasst, macht einfach Spaß.“ Und er fügt hinzu: „Den Weg aus der Werkstatt zu öffnen, ist für alle ein Gewinn: Für die Beschäftigten, weil sie eine neue Perspektive haben, für die Angestellten, weil sich neue Berufsmöglichkeiten eröffnen und für die Werkstatt, weil sie ihr Angebot erweitert und damit attraktiver wird. Und auch für die Betriebe, weil sie eine Verpflichtung übernehmen, die ihre Mitarbeiter zusammenschweißt.“
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