In Sozialräumen zu denken und sie als Ressource zu nutzen, um Menschen mit Behinderung in Kontakt mit Menschen und Gesellschaft und in Arbeit außerhalb von Sondereinrichtungen zu bringen, das ist nicht auf Werkstatt und ihre Beschäftigten beschränkt. Auch Tagesförderstätten haben sozialraumorientierte Konzepte entwickelt und akquirieren Arbeit außerhalb der Einrichtung für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Wie das funktioniert?
Schauen Sie mit uns bei der "ASB-Tagesstätte" in Bremen und bei "Leben mit Behinderung Hamburg" vorbei.
"Wir sind gut darin, Arbeitsprozesse herunterzubrechen und Arbeit in unseren Gruppen zu inszenieren. Das ist aber noch keine Teilhabe am Arbeitsleben, die findet draußen, in der Gesellschaft statt. Wir haben also überlegt, wie wir unsere Beschäftigten in die Gesellschaft bringen können", erklärt Heinz Becker, Sozialpädagoge, Leiter und Vordenker der ASB-Tagesförderstätte.Und damit startete eine engagierte sozialraumorientierte Neuausrichtung: 2012 begannen die Beschäftigten, ihren Bremer Stadtteil zu erobern, Arbeitsaufträge zu übernehmen und Kontakt zu Menschen, Kollegen und Kunden in normalen Alltagssituationen herzustellen. Jede der vier Arbeitsgruppen in der Tagesstätte übernimmt für zwei bis drei Arbeitsprojekte im Stadtteil die Federführung: Beschäftigte entsorgen Altpapier aus einer Zahnarztpraxis, verteilen den Gemeindebrief, schneiden in einer Elektronik-Firma Kabelstücke auf Länge, unterstützen den NABU oder zerkleinern Transportpappen in einem Fahrradladen. Sie arbeiten in der Hauswirtschaft bei verschiedenen Einrichtungen der Arbeitslosen- und Seniorenhilfe, bestücken den Geschirrspüler, helfen beim Aufräumen und werden zum Frühstück eingeladen. Viele Angebote finden mehrmals in der Woche statt, andere nur einmal im Vierteljahr. Die Koordination hat eine fünfköpfige Projektgruppe, die die Arbeit im Sozialraum systematisiert, denn: "Wir haben so schnell Kontakte im Stadtteil bekommen, dass wir erschrocken und fast überfordert innehalten mussten: Wenn man so etwas anfängt, muss man sich als zuverlässiger Partner zeigen, der Absprachen einhält!"
Die Umsetzung des Sozialraumkonzepts im laufenden Alltagsbetrieb erfordert viel Verständnis von allen Mitarbeitern: "Es war nicht die Frage, ob es mit einem Beschäftigten draußen funktioniert und mit einem anderen nicht. Draußen arbeiten kann mit allen klappen. Personell aber war es nicht einfach, wenn in der Gruppe ein Betreuer für ein oder zwei Stunden fehlt. Es war eine Frage der Gewichtung", sagt Heinz Becker. Und wie kommt man an potentielle Auftraggeber? Unkonventionell und pragmatisch! Die Bremer verteilten ihren Flyer "Wir suchen Arbeit-Geber" im ganzen Stadtteil, vergaben selbst nur noch Aufträge an Handwerker und Dienstleister aus dem Viertel, traten einem Verein örtlicher Geschäftsleute bei, nahmen Kontakt zum Ortsbeirat und zur Kirchengemeinde auf. Fast alle Kontakte entstehen darüber, dass die Mitarbeiter im Viertel, beim Bäcker oder nach dem Yogakurs, mit den Menschen ins Gespräch kommen. Obwohl eigene Busse vor der Tür stehen, nutzen sie, wann immer es geht, die öffentlichen Verkehrsmittel. Das schafft Kontakt und Präsenz im Viertel. In allem steckt die Idee des Netzwerkens: Statt der wenig besuchten Tage der offenen Tür gibt es zu Weihnachten und zu Ostern einen Verkaufsbasar − nicht nur für die selbstgefertigten Tafö-Produkte: Mehr als 25 Anbieter aus dem Stadtteil verkaufen ebenfalls ihre Produkte, bringen so nebenbei ihr Publikum mit und selbstverständlich ist die lokale Presse dabei.
"Das wahre Leben läuft außerhalb unserer Tafö, und da gehen wir hin", sagt Heinz Becker. "Wir verändern die Welt – ein kleines bisschen –, denn wir erzielen eine Wirkung. Wir dachten zu Anfang, wir könnten nicht mit allen Beschäftigten raus gehen, weil der Sozialraum nur begrenzt belastbar sei. Da haben wir uns geirrt: Das Umfeld verändert sich durch die Erfahrung, die die Menschen, Kunden, Kollegen, Passanten, mit unseren Beschäftigten machen und dadurch wird der Umgang mit schwerer Behinderung selbstverständlicher.“ Die Zukunftsvision − eine virtuelle Tagesstätte, die wie eine Raumstation als Basis dient, die Welt zu entdecken: "Wir strömen von hier aus und gehen mit den Beschäftigten draußen arbeiten. Hier im Haus bleibt die Verwaltung und ein Anlaufpunkt für Pflegeangebote. Aber selbst die Musikgruppe kann sich in einer Schule treffen."
Ortswechsel von Bremen nach Hamburg zu "Auf Achse, dem sozialräumlich orientierten Arbeitsprojekt von Leben mit Behinderung Hamburg".
Herr Detlefs (Beschäftigter der Tagesstätte Roter Hahn in Hamburg) übernimmt jeden Montag den Postservice zwischen der 5. und der 10. Etage in der Sozialbehörde.
Projektleiterin Wibke Juterczenka beschreibt es so: "Seit vielen Jahren setzen wir in unseren zehn Tagesstätten ein Arbeits- und ein Bildungskonzept um. Irgendwann haben wir uns gefragt: Wenn wir das drinnen können, warum dann nicht auch draußen?" 2010 ist die Geburtsstunde des Projekts Auf Achse. Der Anspruch: mit allen zehn Tagesstätten gleichzeitig nach draußen zu gehen. Mitarbeiter und Leitungen aus allen Einrichtungen entwickelten gemeinsam das Konzept. Das erste Arbeitsangebot Anfang 2011: Ein Beschäftigter entsorgt einmal in der Woche Altpapier in einem Reisebüro. Das Angebot gibt es immer noch. Die Projektgruppe definiert Kriterien, die zwar nicht von Anfang an erfüllt werden können, auf die aber alle hinarbeiten: Personenzentrierung, größtmögliche Beteiligung der Beschäftigten, Zeit und Raum für Kontakt und Begegnung. Wibke Juterczenka: "Das ist eins der wertvollsten Elemente überhaupt, dass die Beschäftigten Kontakte knüpfen können zu Menschen im ‚normalen‘ Arbeitsleben, zu nicht behinderten Menschen und vor allem zu Menschen, von denen sie nicht abhängig sind, die also nicht dafür bezahlt werden, dass sie mit ihnen zusammen sind. Das Medium Arbeit knüpft den Kontakt und ist das gemeinsame Interesse. Unsere Angebote sind sehr stabil, wir haben wenig Fluktuation. Wir arbeiten mit 50 Auftraggebern zusammen, verteilt über das ganze Stadtgebiet, und etwa 120 Beschäftigte gehen regelmäßig auf Achse." Intensität und Häufigkeit der Angebote ist dabei wie in Bremen ganz unterschiedlich: Sie finden einmal im Monat oder auch zweimal in der Woche statt, einige dauern eine halbe Stunde, andere einen ganzen Vormittag. Die Beschäftigten sind in der Sozialbehörde tätig, im Tierpark, in zwei Theatern, bei zwei Fußballvereinen, in einem Versicherungsbüro, in der Kantine, in Schulen und Kirchengemeinden, in einem Blumenladen, bei einem Friseur und bei vielen weiteren Partnern. "Wir werden mutiger und beginnen jetzt neue Arbeitsangebote nicht mehr mit nur einem Beschäftigten, sondern gleich mit zweien." Auf Achse betreibt auch Stadtteilvernetzung über die Arbeit hinaus: "Beispielsweise gehen wir in eine benachbarte Schule und laminieren Unterrichtsmaterialien. Dafür kommt dann vielleicht die Schulband zum Sommerfest der Tagesstätte und spielt dort."
Sehr intensiv pflegt das Projekt die Kontakte zu den Auftraggebern. "Wir feiern alle Jubiläen und auch kleinere Feste mit ihnen, unsere Mitarbeiter holen immer wieder Feedback ein und erfahren, was gut läuft und wo es Störungen gibt. Und wie die Bremer machen wir unglaublich viel Öffentlichkeitsarbeit, nicht nur rund um die Arbeitsangebote in den Stadtteilen, sondern auch in der Fachwelt." Inzwischen vernetzt Auf Achse die Auftraggeber auch untereinander.
Eine Masterstudentin hat ihre Abschlussarbeit über die Perspektive der beteiligten Kooperationspartnerin in Hamburg verfasst, ihre Motivation zur Zusammenarbeitund ihre Zufriedenheit ermittelt und auch, ob sich ihre Einstellung verändert hat. Das Ergebnis: Eine hohe Zufriedenheit bei den Auftraggebern, ihre Haltung gegenüber behinderten Menschen hat sich verändert, Berührungsängste sind abgebaut. "Deutlich geworden ist auch, dass wir uns mit den Arbeitsangeboten noch mehr auf der persönlichen als auf der betrieblichen Ebene des Arbeitsmarkts bewegen. Ausschlaggebend für die Angebote war bisher mehr ein guter persönlicher Kontakt, als die Fähigkeiten der Beschäftigten. Aber auch hier zeichnet sich ein Wandel ab: Auftraggeber erkennen immer mehr, welchen Wert Tätigkeit und Anwesenheit der Beschäftigten für den Betrieb haben."
Fazit: Auch Menschen mit hohem Hilfebedarf können Aufgaben in der Gemeinde übernehmen und, richtig angepackt, wird dies sogar zu einem Mosaikstein für eine inklusive Gesellschaft.
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